Tibet-Buddhismus 46 Vier Unermeßlichen Geisteshaltungen

Tibet & Buddhismus: Heft 46 3/1998 Schwerpunkt-Thema: Die Vier Unermeßlichen Geisteshaltungen

Editorial von Geshe Thubten Ngawang

LIEBE LESERINNEN UND LESER,

all denen, die auch in den letzten Wochen wieder Verantwortung für den Verein getragen haben, gilt mein herzlicher Dank. Ich bin zutiefst vom Nutzen unserer Bemühungen überzeugt, nicht nur für die Dharma-Praktizierenden selbst, die ihren Geist schulen, sondern für die Gesellschaft insgesamt. Von vielen Seiten des öffentlichen Lebens wird unsere Arbeit gewürdigt. Vor einiger Zeit war ich in einem katholischen Kloster eingeladen, und ich freue mich über diesen intermonastischen Dialog. Aufgrund ihrer Wertschätzung sind viele Menschen bereit, im Tibetischen Zentrum mitzuarbeiten oder es mit Spenden zu unterstützen, was wegen der finanziell schwierigen Lage sehr vonnöten ist. Ich danke von Herzen allen, die uns helfen. Es ist gut, sich den Nutzen dieser Anstrengungen vor zu Augen halten. Wir brauchen in unserem Fall nicht daran zu zweifeln.

Von dem anstehenden Besuch des Dalai Lama in unserem Meditationshaus wird ein großer Segen für die ganze Region ausgehen. Durch den Segen wird der Ort noch mehr Inspiration für meditative Verwirklichungen ausstrahlen. Man kann Semkye Ling wie die Wohnstätte des Buddha des Mitgefühls – das reine Land Potala – ansehen. Wer daran glaubt, daß sich Buddhas in dieser Welt verkörpern können, kann sich vorstellen, daß der Dalai Lama vom Wesen Avalokiteoevaras ist und wird dadurch starkes Vertrauen entwickeln. Während der Vorbereitungen, die m. E. insgesamt hervorragend laufen, gibt es naturgemäß auch immer wieder Probleme und Komplikationen. Wenn wir aber Geduld mitbringen und Vertrauen haben, wird das Resultat sicher gut sein. Ich bitte alle Helfer, nicht den Mut zu verlieren und die nächsten vier Monate weiter ihren Teil zum Gelingen beizutragen. Bei allem Streß sollten wir versuchen, fröhlich und entspannt zu bleiben.

Es ist meine Pflicht, Sie darüber zu informieren, daß während des Dalai Lama- Besuchs in Deutschland Anfang Juni Anhänger von Kelsang Gyatso gegen das tibetische Oberhaupt demonstrierten und den Vorwurf erhoben, Seine Heiligkeit schränke ihre Religionsfreiheit ein, weil er von der Verehrung Dorje Shugdens abrät. Ich nahm in Berlin die Einladung einiger Demonstranten zu einem Gespräch an und versuchte deutlich zu machen, daß der Dalai Lama seinen Schülern dringend rät, diese Versehrung zu unterlassen, was sein Recht und seine Pflicht als Lehrer ist. Seine Heiligkeit hat nach eingehender Prüfung erkannt, daß dieser Kult mehr Schaden hervorruft als Nutzen, da er sektiererische, fundamentalistische Züge aufweist. Überhaupt empfiehlt der Dalai Lama, sich auf die eigene religiöse Praxis zu konzentrieren und seine Hoffnung nicht hauptsächlich auf den Beistand von Schutzgottheiten zu setzen, die in der tibetischen Kultur teilweise auch politisch eine unheilvolle Rolle spielten. Sonst wird der tibetische Buddhismus mit seiner tiefgründigen, aus Indien stammenden Philosophie degenerieren. Ich möchte meinen Schülern mitteilen, daß ich über die schädlichen Aktivitäten der Demonstranten sehr bestürzt bin. Wir sollten aber nicht mit Ärger auf diese Menschen reagieren. Als Buddhisten dürfen wir einen friedlichen, gewaltlosen Weg auch dann nicht verlassen, wenn einzelne Verwirrung stiften. Statt dessen sollten wir auf Anfrage sachlich über das Problem informieren und uns ansonsten auf unsere religiöse Praxis konzentrieren. Die Deutsche Buddhistische Union hat sich in einer Stellungnahme klar und unmißverständlich gegen die Verleumdungskampagne gegen den Dalai Lama ausgesprochen.

In unserem Stadtzentrum in Hamburg neigt sich der zweite Studiengang des siebenjährigen Systematischen Studiums des Buddhismus dem Ende entgegen. Im Frühjahr wird ein weiterer, der fünfte Lehrgang, eingerichtet werden. Es ist wichtig, daß die Absolventen das Gelernte gut im Gedächtnis bewahren. Ich hoffe sehr, daß sie dann später Auskunft über den Buddhismus geben und Meditationen anleiten können. So kann sich das Studium über den Erhalt eines Zeugnisses hinaus ganz praktisch auswirken. Diejenigen, die Zuflucht genommen haben, tragen auch einen Teil der Verantwortung dafür, die Lehre des Buddha OEåkyamuni aufrechtzuerhalten. Man kann zum Beispiel mit seinen Freunden und Verwandten über die Werte des Mitgefühls, der Ethik und der Gewaltlosigkeit sprechen. Gerade in so unruhigen Zeiten wie heute besteht ein großes Bedürfnis nach guten Lehren, und es ist von entscheidender Bedeutung, daß Jugendliche menschliche Werte vermittelt bekommen. Allerdings reicht es für echte Dharma-Praktizierende nicht, nur schöne Worte machen zu können. Sie sollten auch Erfahrungen der Inhalte erworben haben, sonst werden ihre Lehren nicht fruchten.

Im Juli besucht uns wieder unser verehrter Lehrer Kensur Geshe Ugyen Rinpoche. Ob die tiefgründigen Lehren, die er unterrichtet, für den einzelnen ihren vollen Wert entfalten können, hängt von der rechten Motivation, also der Praxis des Lamrim ab. Kensur Rinpoche wird auch während der Sommerklausur in Semkye Ling lehren.

Heft 46 - 3/1998

Schwerpunkt-Thema: Die Vier Unermeßlichen Geisteshaltungen

  • Editorial (PDF)
  • zusammengestellt von Birgit Stratmann: Die Vier Unermeßlichen Geisteshaltungen (PDF)
  • Kongo Lama Yesche Tsöndru: „Wären sie doch von allem Leiden befreit!“ (PDF)
  • Interview mit Ranjani de Silva von Carola Roloff: Wiedereinführung des Nonnenordens in Sri Lanka (PDF)
  • Geshe Thubten Ngawang: Probleme mit Dharmabeschützern (PDF)
  • Interview mit S. H. Dalai Lama: „Der Schugden-Kult fördert das Sektierertum“ (PDF)
  • Martin Kalff: C.G. Jungs Begegnungen mit dem Osten (PDF)
  • Tenzin D. Sharchok: Tibet: Verletzung der Menschenrechte und der Umwelt gehen Hand in Hand (PDF)
  • Internes (PDF)
  • Interview mit Geshe Thubten Ngawang: „Vom Hören des Lamrim wird man noch nicht zum Buddhisten“ (PDF)
  • Interview mit Wei Jingsheng: „Mit aller Kraft die Demokratie in China einführen“ (PDF)
  • Aktuelles (PDF)
  • Buchbesprechungen (PDF)