Tibet-Buddhismus 1 Reise nach Tibet

Tibet & Buddhismus: Heft 1 2/1987 Schwerpunkt-Thema: Reise nach Tibet

Editorial von Geshe Thubten Ngawang

Flüchtlingshilfe

Das Tibetische Zentrum hat ein umfangreiches Hilfsprogramm für tibetische Flüchtlinge, vorwiegend für die in Indien lebenden. Das Programm umfaßt Patenschaften für 150 junge und alte Tibeter im Kloster Sera-Jeh in Bylakuppe, Südindien, und in einem tibetischen Kinderdorf in Choglamsar in Ladakh. Ebenso wird die Klosterküche der Sera-Jeh Schule regelmäßig unterstützt. Nähere Informationen dazu senden wir Ihnen auf Anfrage gern zu.


Zusammenfassung

Seit der Gründung des Tibetischen Zentrums haben sich seine Aktivitäten und Mitgliedschaften vermehrt. Durch das wachsende Interesse im Westen am Buddhismus hat das Zentrum - das bisher das einzige tibetisch-buddhistische Zentrum in Deutschland mit einem ständig dort lebenden Lehrer ist - eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Eine Aufgabe, die sich über die Grenzen Deutschlands hinaus erstreckt.


Ein Vorwort Gesche Thubtens

Liebe Freunde,

Wie in jedem Halbjahr möchte ich einige einleitende Worte zu unserem Programm für das Jahr 1987 sagen.

Im Sommer 86 reiste ich für drei Monate in meine Heimat nach Tibet. Viele von Ihnen haben Anfang Dezember meinen Bericht darüber gehört und die Dias dazu gesehen. Die Reise war sehr schön, und auch gesundheitlich habe ich keinerlei Schaden genommen.

Im letzten Programm baten wir Mitglieder und Nichtmitglieder, die nicht im Zentrum wohnen, um Hilfe bei der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des Zentrums. Daraufhin haben sich einige Freunde gemeldet, die jetzt ein- oder zweimal in der Woche zu uns kommen, um bei den anfallenden Arbeiten verantwortlich mitzuarbeiten. Ebenso haben wir finanzielle Hilfe durch Spenden, neue Mitgliedschaften und zinslose bzw. zinsniedrige Privatdarlehen erfahren. Dafür möchte ich mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken und Sie bitten, diese wichtige Unterstützung auch in der Zukunft so gut Sie können weiterzuführen.

Im Zentrum wohnen außer mir nur sechs Dharmastudenten. Doch sie bilden eine gute Gemeinschaft und machen zusätzlich zu ihrer Arbeit für das Zentrum auch ihre Studien sehr gut.

Unser besonderer Dank richtet sich an den verehrten Gesche Rabten Rinpotsche. Er hat es ermöglicht, daß ich hier nun schon seit mehr als sieben Jahren,, seit 1979, kontinuierlich lehren kann. In dieser Zeit haben natürlich auch meine Verpflichtungen zugenommen. So wurde, wie Sie wissen, vor einiger Zeit die Buddhistische Religionsgemeinschaft gegründet, um damit eine der notwendigen Voraussetzungen für eine Anerkennung des Buddhismus in Deutschland als Körperschaft öffentliche Rechts zu schaffen. Nach der gemeinsamen Gründung dieser Gemeinschaft kann sich das Zentrum seiner Aufgabe, dort mitzuarbeiten, nicht entziehen, auch wenn es sicherlich nicht immer möglich sein wird, umgehend die angestrebten Resultate zu erzielen. Deswegen habe ich erneut meiner Wahl in den Buddhistischen Rat zugestimmt, der im vergangenen Jahr aus 19 Mitgliedern bestand und für die nächsten beiden Jahre aus 15 Mitgliedern besteht.

Darüberhinaus muß ich mich um das von mir neugegründete Zentrum in Münster kümmern, und ebenso habe ich eine regelmäßige Betreuung Berliner Interessenten zugesagt. Dadurch läßt es sich nicht vermeiden, daß ich hin und wieder unterwegs bin. Zusätzliche regelmäßige auswärtige Verpflichtungen werde ich in der Zukunft jedoch nicht mehr annehmen.

Auch wenn die Arbeit in den letzten Jahren zugenommen hat, möchte ich einen neuen Vorschlag für das Jahr 1988 machen: Wir müssen meiner Meinung nach auch an eine Möglichkeit denken, Deutsche auszubilden, die den Buddhismus in in ihrer eigenen Sprache unterrichten können. Doch der Buddhismus ist sehr tiefgründig und ein weites Feld. Um ihn lehren zu können, muß man sowohl die Worte des Buddha als auch deren Bedeutung kennen. Auch wenn man nicht in der Lage ist, alle Aspekte des Buddhismus zu studieren, so muß man zumindest zwanzig oder dreißig Prozent beherrschen. Ansonsten ist eine studierte Lehrtätigkeit im Dharma sicher nicht möglich.

Um die Möglichkeit zu geben, sich diese entsprechenden Kenntnisse anzueignen, plane ich, ab 1988 eine etwa siebenjährige Lehrerausbildung auch für die Interessenten anzubieten, die berufstätig sind und daher nicht die Möglichkeit haben, an der bereits bestehenden täglichen Ausbildung teilzunehmen. Denn zunZeit ist hier im Zentrum die Möglichkeit für eine solche Ausbildung gegeben. Mit mir haben Sie einen ausgebildeten Lehrer, und wir haben keine Schwierigkeiten bezüglich eines Übersetzers. Ich muß weder im Inland noch im Ausland viel umherreisen, und habe daher die Zeit hier kontinuierlich sowohl tibetische Schrift und Sprache als auch alle Schriften und Lehren des Hinayana und Mahayana vollständig zu unterrichten. Wir sollten die Möglichkeit wahrnehmen, so lange sie sich uns anbietet.

Die eigentliche Ausbildung ist so geplant, daß ich etwa über sieben Jahre, beispielsweise an den Samstagen in zwei Sitzungen, aus folgenden Schriften, die wichtigsten Abschnitte kurz zusammengefaßt erklären werde:

A. Grundlegende Studien


1. Grundlegende Philosophische Analyse (dü-dra)
2. Der Geist und seine Funktionen (lo-rig)
3. Prinzipien der Logik (ta-rig)

B. Fortgeschrittene Studien


1. Philosophische Lehrmeinungen (drum-ta)
a) Die Vaibaschikas: - Grundtext: Abhidharmakoscha von Vasubandhu - Kommentar: Der Erheller des Pfades zur Befreiung von Gendün Drub
b) Die Sautrantikas:
c) Pramanawartika von Dharmakirti Die Tschittamatras: Die Essenz der Erklärungen über die zu interpretierenden undletztgültigen Aussagen des Buddha von Tsongkhapa Kommentar zu Teilen des Sutra von der Klärung der Gedanken (Samdhinirmochanasutra) Kommentar und Grundtext über das ,,allem zugrundeliegende Bewußtsein” (alayavidschnyana) von Tsongkhapa Mahayanasutra-alamkara von Maitreya
d) Die Madhyamikas: - Prasangikha-Madhyamikas: Madhyamaka-avatara von Chandrakirti Kommentare dazu: Der klare Spiegel von Gyalwa Gendün Drupa Erhellung des Gedankens von Tsongkhapa - Svatantrika-Madhyamikas: Madhyamaka-alamkara von Schantarakschita Kommentar Tsongkhapas zum 18. Kapitel des Mulamadhyamakakarika von Nagardschuna

2. Pradschnaparamita (Allgemeine Buddhistische Lehre): - Kommentar Dschetsün Tschökyi Gyaltsens zum 1. und 8. Kapitel des Textes Abhisamayalamkara von Maitreya und evtl. noch andere Kommentare
3. Gemeinsamer Pfad von Paramitayana und Vadschrayana, auch Sutrapfad genannt: - Die große oder mittlere Darstellung der Stufen auf dem Pfad (lam-rim tschen-mo jang-na dring) von Tsongkhapa


Wer darüberhinaus später einmal die traditionelle philosophische Debatten führen und Schriften im Originaltext verfolgen möchte, sollte sich zusätzlich um das Lernen der tibetischen Sprache bemühen. Wenn daran Interesse besteht, werden wir ab 1987 eine entsprechende Tibetisch-Klasse einrichten, die einmal die Woche stattfindet. Zusätzlich zu meinem Unterricht (z. B. im Anschluß daran) wird Gelegenheit bestehen, mit den fortgeschrittenen Studenten hier im Haus auf Deutsch über - den jeweiligen Unterrichtsstoff zu diskutieren, um Unklarheiten auszuräumen und Fragen zu beantworten. Einen detaillierteren Lehrplan werde ich noch aufstellen, so daß Sie ihn demnächst im Untrum anfordern können. Über die Zeiten und andere Details können wir später gemeinsam beraten. Auch auswärtige Teilnehmer können sich als Studenten eintragen und ein Fernstudium mit Kassetten machen.

Jedes Jahr werden nach Abschluß eines bestimmten Themenkomplexes etwa zwei bis drei schriftliche Prüfungen in deutscher Sprache im Zentrum angeboten werden. Diese Prüfungen können jedoch nur persönlich im Zentrum abgelegt werden und sind für diejenigen gedacht, die einen Abschluß als Dharmalehrer haben möchten. Das wichtigste an dieser Ausbildung ist jedoch nicht die Prüfung, sondern dem Studierenden eine fundierte Grundlage des Buddhismus für seine eigene geistige Entwicklung zurgeben. Wer also ohne Prüfungen am Unterricht teilnehmen möchte, hat dazu ebenso die Möglichkeit. Auch ist eine teilweise Teilnahme an einzelnen Studienfächern, wie z. B. über die Madhyamikas oder Abhidharmakoscha, möglich. Ein Diplom hoffe ich denjenigen geben zu können, die die Ausbildung vollständig mitgemacht und die entsprechenden Prüfungen erfolgreich abgeschlossen haben.

Wenn jemand also meint, daß er dazu in der Lage ist und gern an einer solchen sieben- oder achtjährigen Ausbildung teilnehmen möchte, sollte er oder sie sich möglichst bald melden. Alle Teilnehmer bitte ich, sich in 1987 schon einmal um eine umfassende Kenntnis der Lebensgeschichte des Buddha Schakyamuni zu bemühen und gegebenenfalls den Tibetischunterricht zu belegen.


Es wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, daß in dem obigen Lehrplan bisher nicht die Vinayastudien (Studien zur moralischen Disziplin, insbesondere der klösterlichen Disziplin) erwähnt wurden. Zu einer Gesheausbildung, wie sie zum Beispiel in meinem Kloster Sera durchgeführt wird, gehören vier Jahre Studium der Vinaya. Doch Menschen, die entsprechend der Vinaya praktizieren können, sind sehr selten.

Es gibt viele, die heutzutage sogar lange Diskussionen darüber fuhren, wie die fünf Laienregeln auszulegen sind; ob man sie etwas weitgefaßter betrachten muß, ob es unheilsam ist, Alkohol zu trinken oder nicht usw. Das ist ein deutliches Anzeichen dafür, daß es sehr schwer ist, ein Gelübde einzuhalten. Die Regeln eines Laien finden sich nicht nur in der Vinaya, sondern auch im Abhidharmakoscha werden sie ausführlich erklärt: wie man das Gelübde nimmt, wie man es einhält, wie es nicht degeneriert, welches die Natur bzw. das Wesen eines Gelübdes zur eigenen Befreiung ist, wann man ein Gelübde aufgegeben hat usw. Dies alles werde ich im vierten Kapitel des Abhidharmakoscha erläutern.

Darüberhinaus gibt es noch eine Schrift namens Die Essenzdes Ozeans der Disziplin (dül-wa gja-tso njing-bo) von Tsongkhapa. Diese brauchen jedoch die Nichtordinierten und diejenigen, die nicht den Wunsch haben Mönch oder Nonne zu werden, nicht zu studieren.

Ein Meister der Kadam-Sarma-Tradition, Dsche Kungtang Jamyang, gab einen Ratschlag über die Art und Weise des Studiums. Er sagte: ,,Durch Studium der Texte über den Mittleren Weg (Madhyamika) zusammen mit den Texten über Logik (Pramana) entsteht Erkenntnis der absoluten Wahrheit. Durch Studium der Texte über transzendente Weisheit (Pradschnaparamita) zusammen mit dem Schatz der metaphysischen Wissenschaften (Abhidharma) entsteht Meditation. Durch Studium der Texte über Disziplin (Vinaya) entsteht echte religiöse Erziehung. Wenn man jedoch eines dieser (fünf) Hauptthemen wegläßt, so werden die drei höchsten Schulungen getrennt (und können nicht zur Wirkung kommen). Deswegen muß man alle fünf Wissenschaftsgebiete zusammen studieren.”

Er sagt also, daß man ohne ein Studium aller fünf Gebiete die drei höchsten Schulungen (Weisheit, Konzentration und Disziplin) voneinander trennt. Das liegt daran, daß man zum einen eine einwandfreie Ansicht benötigt, die das Madhyamika- System und das Pramana-System miteinander vereinigt. Zum zweiten benötigt man eine einwandfreie Meditation, die aus dem Studium von Abhidharmakoscha und Pradschnaparamita entsteht. Und als Grundlage für die Entwicklung dieser beiden benötigt man ein einwandfreies ethisches Verhalten, wie es in der Vinaya erklärt wird.

Hierzulande ist es jedoch sehr schwer, sich diese entsprechende Grundlage von einwandfreiem ethischen Verhalten durch Einhaltung eines Pratimokschagelübdes (Gelübde zu eigenen Befreiung) anzueignen. Doch wenn die entsprechenden Bedingungen dafür nicht zusammenkommen, können wir es nichtändern.

Ich habe die große Hoffnung, daß es in der Zukunft eine Verbindung zwischen den Naturwissenschaften und dem Buddhismus durch gegenseitigen Austausch westlicher Wissenschaftler und buddhistischer Experten geben wird. Das sage ich nicht, um schöne Worte zu machen. Im Mai 86 habe ich an einer Tagung mit Prof. Carl Friedrich von Weizsäcker über ,,Raum und Zeit“ teilgenommen. Auch er sagte, daß wir nicht wissen, was in 100 Jahren sein wird und daß es durchaus denkbar ist, daß es dann einen Bewußtseinszustand der Menschheit geben wird, in dem das Wissen des Buddhismus und das Wissen der neuzeitlichen Wissenschaft selbstverständlicher Besitz aller Wissenden sein wird.

Sie stimmen mir sicherlich zu, daß diese Worte eine große und tiefe Bedeutung haben. Ich sehe darin einen großen Nutzen und finde, daß es etwas ist, daß es wirklich wert ist, seine Hoffnung darauf zu setzen.

Eine solche Situation kann sich jedoch nicht von allein, spontan, wie ein Regenbogen am Himmel, einstellen, sondern nur durch die Bemühungen von uns Menschen. Jeder muß zunächst ein Interesse entwickeln, entsprechenden Studien nachgehen, große Geduld aufbringen und sehr viel Zeit darauf verwenden. Allgemein betrachtet sind sieben Jahre eigentlich nichts für ein so großes Ziel. Sieben Jahre sind eine sehr kurze Zeit. Doch unter den gegebenen örtlichen und zeitlichen Umstände ist es, wie schon vorhin erwähnt, bereits gut, wenn man 20 bis 30% weiß. Darüberhinausgehende Kenntnis sind schwer zu erwerben.

Europa gehört nicht zu den Ländern, in denen sich der Buddhismus nach dem Parinirwana des Buddha Schakyamuni ausgebreitet hat. Er hat sich in vielen anderen Ländern ausgebreitet: in China, Tibet, Sri Lanka, Thailand usw. Zuerst sind große indische Gelehrte in die jeweiligen Länder gegangen, um das, was sie wußten unverfälscht weiterzugeben. In Tibet zum Beispiel waren bei den Übersetzungen der Sutras und Kommentare immer indische Gelehrte zugegen. Diese haben sich mit den tibetischen Übersetzern (lo-tsa-wa) zusammengesetzt und so eine Schrift nach der anderen übersetzt.

Große indische Meister wie Palden Atischa waren während der sogenannten späten Periode der Verbreitung des Dharma bis an ihr Lebensende in Tibet, um bei der Verbreitung der Lehre behilflich zu sein. Dann kamen tibetische Meister wie Dromtönpa und Gesche Potowa, die die Tradition des Lehrens, des Studierens und der Praxis, dem Vorbild von Atischa folgend, fortsetzten. Deshalb heißt es noch heute in den Gebeten an die Meister der Überlieferung ,,An Atischa, der zum Wohle der großen Anzahl von Wesen gewirkt hat, richte ich meine Bitten.“

Auch während der frühen Periode der Verbreitung des Dharma in Tibet wurden große Meister wie Padmasambhava und Khentschen Bodhisattwa aus Indien von dem religiösen König Trisong Detsen eingeladen. Was sie vorgelebt haben, machten sich die tibetischen Schüler zu eigen, und so entstand die Tradition der Nyingma, die man auch die frühe übersetzungsphase nennt. Dieses wollte ich zum Schluß nur erwähnt haben, um die Situation von verschiedenen Seiten her zu beleuchten.

Alle Mitglieder und Interessenten grüße ich von ganzem Herzen mit vielen Tashi Delek.

Ich wünsche Ihnen ein glückliches Jahr 1987 und bete für Ihre Gesundheit, einen sanften Geist und dafür, daß Sie und alle anderen Lebewesen Glück und Frieden erlangen mögen.

Heft 1 - 2/1987

Schwerpunkt-Thema: Reise nach Tibet

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